Vielleicht haben einige Wal- und Delfinfreunde den Dokumentarfilm über Buckelwale gesehen, der die Geschichte von Misty und ihrem Baby Echo erzählte. Beide wurden auf ihrer langen und hindernisreichen Reise von Hawaii nach Alaska von einem Kamerateam begleitet. „Die Geschichte haben wir uns ausgedacht.“ Der amerikanische Dokumentarfilmer Chris Palmer legt die Karten offen auf den Tisch. „In Hawaii gibt es viele Wale, weil sie dort bevorzugt kalben. Mutter und Jungtier, die Alaska erreichen, sind aber nicht dieselben wie beim Start ihrer Reise in Hawaii.“ Kurz: „Misty“ und „Echo“ gibt es nicht.
Misty und Echo existieren nur in der Fantasie der Zuschauer.
(Foto: Susanne Gugeler)
Seit 25 Jahren macht Palmer spektakuläre Aufnahmen u.a. von Tigern, Wölfen und Delfinen. Leicht ist seine Arbeit nicht, deshalb wird in der Dokumentarfilm-Branche auch immer wieder getrickst, verrät der 63-jährige Profi. Da werden Höhlen nachgebaut und Wölfe dressiert, damit besonders hinreißende Aufnahmen gelingen. Alle Filmszenen seien erfunden, versichert Palmer, sie dienten nur dazu, bei den Zuschauern Illusionen zu erwecken.
Mit seinem Buch „Shooting in the Wild“ stellt der Regisseur die Dokumentarfilm-Branche bloß. „Wenn Sie in einem Film einen Bären sehen, der einen Rehkadaver verspeist“, schreibt Palmer darin laut „Washington Post“, „dann ist es höchstwahrscheinlich ein gezähmtes Tier, das nach Süßigkeiten sucht, die der Tierfilmer im Bauch des Rehs versteckt hat.“
Das präsentierte Filmprodukt und die Beobachtung in der Wildnis haben nur sehr wenig miteinander zu tun, weiß der erfahrene Dokumentarfilmer. Die Tiere werden oft vermenschlicht dargestellt, ihnen werden menschliche Gefühle unterstellt, um beim Betrachter Emotionen wach zu rufen.
Auch der deutsche Regisseur Christian Baumeister sieht in seinen Filmen die Natur nicht 1:1 abgebildet. „Wir sind Filmemacher, wir müssen unterhalten. Oft sitze ich tagelang im Tarnzelt und langweile mich. Das will aber keiner sehen“, sagt er. „Ein Film kann nie die Realität darstellen. Was ein Film zeigt, ist alles sehr komprimiert und damit zwangsläufig auch manipuliert.“
Ein großes Problem für die Tierfilmer ist das knappe Budget. Oft kann sich die Film-Crew nicht leisten, noch einen Tag länger auf ein wildes Tier zu warten. Dann wird es eben angelockt.
„Du musst mit dramatischem und aufregendem Drehmaterial zurückkommen“, sagt Palmer. „Wenn du diesen Druck hast und das Geld langsam ausgeht, das Wetter schlechter wird – dann ist Ethik das Letzte, was du im Kopf hast. Du willst nur diese Aufnahme.“
(Quelle: „Naschen am Kadaver“)
Dieses Dilemma kann ich mir gut vorstellen. Ich glaube, viele Zuschauer unterschätzen auch die Arbeit und Ausdauer, die hinter Tierdokumentationen stecken. Ich habe auf meiner Reise auf die Azoren auch wieder gemerkt, wie viele "Fehlschüsse" man mit der Kamera macht, bevor man mal ein tolles Bild hat. Und das ist nur eine Momentaufnahme. Wenn man ganze Bewegungsabläufe filmen möchte, wird die Aktion um ein vielfaches komplizierter. – Der Mensch ist so gestrickt, dass er Sympatiepunkte nach den ähnlichkeiten zum menschlichen Verhalten vergibt. Wenn man damit aber erreicht, dass sich der Mensch für die Natur interessiert, sich auch identifiziert und sich verantwortlich fühlt und sie nicht als absolut fremden Teil empfindet, ist diese Suggestion in meinen Augen absolut legitim. Deshalb "Hut ab" vor diesen Filmemachern, die versuchen, den Drahtseilakt mit wenig Geld zu schaffen.