Gastbeitrag von Michael Miersch / 22. Mai 2016
Kurze Einleitung zum Thema
Der Tiergarten der Stadt Nürnberg veranstaltete am 4. Mai 2016 erstmals eine Fachtagung zu Tierschutzindikatoren (Animal Welfare Indicators) unter der Schirmherrschaft der Intergroup „Climate Change, Biodiversity and Sustainable Development“ des Europäischen Parlaments, vertreten durch den Vorsitzenden der Intergroup, den tschechischen Abgeordneten des Europaparlaments Pavel Poc. (Quelle: Nürnberger Tiergarten)
Ich freue mich sehr, dass der Publizist und Dokumentarfilmer Michael Miersch den MEERESAKROBATEN seine Eindrücke über die Tagung zur Veröffentlichung überlassen hat. Herzlichen Dank!
Der nun folgende Text stammt von Michael Miersch.
In Nürnberg trafen sich erstmals Wissenschaftler, Tierärzte, Zoo-Mitarbeiter, Behördenvertreter und sogar Anti-Zoo-Aktivisten, um zu beraten, wie man am besten herausfinden kann, ob es Meeressäugern in Menschenobhut gut geht.
Moby ist einer der letzten Wildfänge
Moby hat schon viel erlebt. Der Große Tümmler ist einer der letzten Wildfänge in westeuropäischen Zoos, ein Methusalem seiner Art, der seit mehr als vier Jahrzehnten in Nürnberg residiert.
Ein besonderes Jahr war für ihn 2011. Da schwamm er erstmals hinaus in das neue, große Wasserfreigehege für Delfine und Seelöwen. Seither kann er gemeinsam mit seinen Artgenossen und den Robben nicht nur durch verschiedene weiträumige Becken tauchen, sondern sieht durch eine kinoleinwandgroße Glasscheibe auch die staunenden Gesichter der Zoobesucher.
Zoo-Befürworter und Zoo-Gegner friedlich vereint
Am 4. Mai 2016 fand vor dieser imposanten Glaswand unter Mobys Augen eine besondere Tagung statt. Menschen, die Delfine pflegen, betreuen und trainieren saßen friedlich in einem Raum mit Aktivisten, die Delfinarien am liebsten sofort verbieten würden – dazwischen Verhaltensforscher, Tierärztinnen und andere Expertinnen und Experten.
Ziel dieser ungewöhnlich toleranten und offenen Runde war es, Kriterien festzuhalten, nach denen künftig festgestellt werden soll, ob sich Meeressäugetiere in Menschen-Obhut wohlfühlen. Denn es ist nach wie vor schwierig herauszufinden, ob ein ewig lächelnder Delfin still trauert oder ein scheinbar vergnügt bellender Seelöwe innerlich leidet.
Einigkeit herrschte bei den Wissenschaftlern lediglich darüber, dass tierisches Verhalten oftmals fehlinterpretiert wird.
Tierwohl ist eine Prüfung unserer Humanität
Was kann man tun, um die Bedürfnisse von Wesen zu erkennen, deren Sinneswelt sich von der menschlichen radikal unterscheidet?
Wie anders die Wahrnehmung der Meeressäuger ist, erforscht der Rostocker Zoologe Guido Dehnhardt. Robben, so konnte er nachweisen, detektieren beispielsweise mit ihren Tasthaaren geringste Wasserbewegungen.
In Nürnberg demonstrierte Dehnhardt, dass Große Tümmler einen elektrischen Sinn besitzen. Er ist in den kaum sichtbaren Follikeln auf ihrer Schnauze versteckt, die einst bei ihren evolutionären Ahnen Haarwurzeln umschlossen.
Der tschechische Europaabgeordnete Pavel Poc, der der für Tierschutz zuständigen Arbeitsgruppe im EU-Parlament vorsitzt, bedauerte, dass es bis heute keine gesetzlichen Kriterien für Tierwohl gibt. Ein Mangel, der schleunigst beseitigt werden sollte. Denn, so Poc, „Tierwohl ist einer Prüfung unserer Humanität.“
Die „Fünf Freiheiten“
Das Beste, was aus Pocs Sicht, die auch viele Wissenschaftler teilen, derzeit zur Verfügung steht, seien immer noch die „Fünf Freiheiten“, die bereits in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts vom britischen Farm Animal Welfare Council (FAWC) entwickelt wurden:
* Freiheit von Hunger und Durst
* Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden
* Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten
* Freiheit von Angst und Stress
* Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster
Manchmal jedoch widersprechen sich die „Fünf Freiheiten“ gegenseitig, kritisierte Anastasia Komnenou. „Ein Tier hat Angst,“ gab die Tiermedizinerin von der Universität Saloniki zu bedenken, „wenn man es medizinisch behandelt, um eine Krankheit zu heilen.“
Sie wies darauf hin, dass auch Stress kein Zeichen für Unwohlsein sein muss. Was ihre Forscherkollegen im Saal bestätigten.
Tierwohl ist kein feststehendes Konzept
Der kurzzeitige Anstieg des „Stresshormons“ Cortisol im Blut kann einerseits Angst und Leid signalisieren, andererseits auch frohgestimmte Erwartung und freudige Erregung.
Wissenschaftlich bewiesen sei lediglich, so Komnenou, dass Langzeitstress ein schlechtes Zeichen ist und ein Hinweis darauf, dass die Haltungsbedingungen nicht stimmen.
Wie schwierig es ist, anhand von Cortisol-Messungen auf falsche Tierhaltung zu schließen, erläuterte Heather J. Bacon von der Universität Edinburgh. „Tierwohl ist ein Kontinuum, kein feststehendes Konzept“, betonte sie, „Kriterien für Wohlbefinden können extrem individuell sein.“ Dem stimmte auch Norbert Sachser von der Universität Münster zu: „Cortisol-Messungen müssen stets mit Verhaltensbeobachtungen kombiniert werden.“
Dass sich Tierhaltung nicht unbedingt an den natürlichen Bedingungen orientieren sollte, unterstrich Sachser mit den Worten, „die Natur sorgt nicht für Tierwohl, die meisten Individuen sterben früh und haben viel Stress.“
Das wollte Ingrid Visser vom neuseeländischen Orca Research Trust so nicht stehen lassen: „In der Natur können Tiere, die gemobbt werden, abwandern. Das können sie im Zoo nicht.“
Tiere, die spielen, fühlen sich wohl
Dass Vermenschlichung immer wieder zu Fehlschlüssen führt, betonte der Neurobiologe Onur Güntürkün von der Universität Bochum.
So haben vergleichende Untersuchungen an Legehennen gezeigt, dass es den Hühnern in der von vielen Menschen als tierfreundlich betrachteten Freilandhaltung überraschend schlecht ergeht.
Andererseits können Haltungsmerkmale, die die meisten Laien als nicht besonders schlimm beurteilen würden, für Tiere extrem unangenehm sein: beispielsweise Gehege, in die die Besucher von oben blicken können.
„Tiere,“ so Güntürkün, „ werden oftmals gleichzeitig über- und unterschätzt.“
Dennoch waren sich die Experten über einige Merkmale einig, von denen auf das Wohlbefinden von Delfinen und anderen Meeressäugern geschlossen werden kann. Tiere die spielen, fühlen sich in der Regel wohl. Auch wenn sie, ohne durch Futter angelockt zu werden, freiwillig Kontakt zu ihren Pflegern suchen, ist dies ein gutes Signal.
Ebenso kann man bei manchen Verhaltensmustern relativ sicher auf Leiden schließen. Dazu zählen beispielsweise Apathie, Mangel an Selbstpflege und Futter-Verweigerung.
Auch darüber, dass „Behavioral Enrichment“ (Verhaltensanreicherung, etwa durch Spielmaterial oder verstecktes Futter) zum Wohlbefinden beiträgt, waren sich die Experten weitgehend einig.
Delfine beispielsweise brauchen mehr Sinnesreize am Grunde ihrer Becken und weniger schwimmendes Spielmaterial, so Heather J. Bacon. Denn in freier Natur stöbern sie zwischen Wasserpflanzen und in sandigen Böden nach Essbarem.
Es besteht großer Forschungsbedarf
Konsens herrschte auch darüber, dass noch viel Forschungsbedarf besteht.
Als besonders hilfreich schätzten die Wissenschaftler sogenannte Präferenztests ein. Dabei wird geprüft, wie viel Mühe ein Tier bereit ist zu investieren, um eine bestimmte Veränderung seiner Umwelt herbeizuführen.
„Wir wollen“, so formulierte der Nürnberger Zoodirektor Dag Encke das gemeinsame Anliegen, „unserer menschlichen Verantwortung für Tiere gerecht werden.“ Wenn sich Wissenschaftler, Zoo-Mitarbeiter und Zoo-Kritiker auf Tierwohl-Indikatoren einigen könnten, wäre dies ein großer Schritt zu mehr Humanität.
Noch einmal herzlichen Dank für Ihren Beitrag, Herr Miersch!
Auf der folgenden Seite gibt es weitere Informationen über die Tagungsteilnehmer (Quelle: Nürnberger Tiergarten).
Vielen Dank für diesen interessanten Bericht. Natürlich kann man nie hundertprozentig sagen, wie sich ein Tier in seiner gegebenen Situation fühlt (das schaffen wir ja oft nicht mal bei unseren Mitmenschen), aber ich denke, es gibt zumindest Indizien wie die erwähnten Hormonmessungen und das Spielverhalten, das erwachsene Tiere nur dann zeigen, wenn sie sich absolut sicher fühlen. In der Natur spielen bei den meisten Arten fast ausschließlich die Jungtiere, um zu lernen. Die Sicherheit wird durch die Elterntiere vermittelt, die während des Spiels aufpassen. Delfine bilden eine der wenigen Ausnahmen, die noch als adulte Tiere häufig spielen.
Vielen Dank für deinen Beitrag, Oliver. Ich sehe das genauso wie du.
Wenn man von Delfinen spricht, die auch als erwachsene Tiere ein ausgeprägtes Spielverhalten zeigen, so meint man damit allerdings nur die Arten, die unter „menschlicher Beobachtung“ stehen. Von den meisten Arten (es gibt ja weit über 30) ist nämlich nicht bekannt, ob sie ebenfalls dieses Verhalten zeigen. Ihr Leben spielt sich zum größten Teil ja unter Wasser und von Mensch unbeobachtet ab.
„Unter menschlicher Beobachtung“ stehen zum Beispiel ortsansässige Große-Tümmler-Gruppen (Stichwort Sarasota Bay, Port-River-Mündung), Fleckendelfine auf den Bahamas oder Tursiops-aduncus-Gruppen im Roten Meer (und natürlich noch viele andere Populationen, die gut erforscht sind).
Auch in Zoos, in denen es „Behavioral Enrichment“-Angebote gibt und in denen Delfine ja bekanntermaßen sich nicht vor Feinden fürchten müssen, kann man auch bei sehr alten Großen Tümmlern (zum Beispiel dem weit über 50-jährigen Moby in Nürnberg) Spielverhalten beobachten.
Danke für diesen Bericht! Bei der Tagung wäre ich gern dabei gewesen und hätte gelauscht, es hört sich spannend an.
Zitat: >>Das wollte Ingrid Visser vom neuseeländischen Orca Research Trust so nicht stehen lassen: „In der Natur können Tiere, die gemobbt werden, abwandern. Das können sie im Zoo nicht.“<<
Auch wieder so eine hanebüchener Behauptung, die einfach nur oft genug wiederholt wurde, um als "wahr" durchzugehen!
Kein Delfin/Orca verlässt seine Schule freiwillig – da das Leben als Einzelgänger extrem gefährlich (mit einem einzelnen Delfin wird ein weißer Hai / Bullenhai / Orca schnell fertig) und dank Futtermangel (alleine einen Heringsschwarm einzukreisen geht auch irgendwie nicht) auch gerne mal tödlich verläuft. Auch die Chancen, Anschluss an eine andere Schule zu finden, sind je nach Spezies eher mäßig – und in jedem Fall extrem risikoreich. Speziell unterlegene Bullen werden auch in einer neuen Gruppe schnell wieder das Opfer sein, und als Weibchen auf eine Schule notgeiler Bullen (eventuell auch noch einer ähnlichen, aber körperlich überlegenen Art – z.B. Spinner-Delfin-Kuh und Große Tümmler Bullen) zu treffen, stelle ich mir auch nicht so prickelnd vor.
Ich bin daher der Meinung, dass selbst (oder gerade) unterlegene Tiere in einer ordentlich geführten Tierhaltung ein recht gutes Los gezogen haben: Wenn hier die "Chemie" in der Gruppe nicht stimmt, werden die Verantwortlichen relativ schnell eingreifen und zunächst durch Separierung und bei anhaltenden Problem auch durch Umsiedlung dafür sorgen, dass kein Tier "gemobbt" wird.
Bestes Beispiel ist hier der Methusalem Moby in Nürnberg, der in freier Wildbahn die Begegnung mit Arnie wohl kaum überlebt hätte. Nein, ein 53-jähriger Bulle wird es in freier Wildbahn definitiv nicht mehr schaffen, sich eine neue Schule zu suchen.
Arnie begrlückt jetzt in Spanien seine Kühe und Moby träumt weiter davon, der Alpha-Bulle in Nürnberg zu sein. Sein Sohn Noah glaubt das zwar ganz offensichtlich nicht (siehe Abstammung von Nami), aber er legt es auch nicht auf einen offenen Streit an.
Soviel zum Thema "in freier Natur ist alles besser".
Hallo Norbert, meinst du mit dem Delfin, der jetzt in Spanien lebt, nicht eher Rocco? Soviel ich weiß, ist Arnie noch in der Nürnberger Gruppe …
http://www.meeresakrobaten.de/2014/10/nuernberger-delfinmaennchen-rocco-zog-nach-malaga/
Äh, ja … hab‘ die beiden verwechselt – Sorry. Die beiden waren immer zusammen, bis Rocco verfrachtet wurde.
Arnie kam nicht mit Rocco, sondern mit J o k e r nach Nürnberg. Beide lebten in einem getrennten Becken, da die beiden leider nicht mit der bestehenden Gruppe harmonierten. Beide stammen aus dem Heidepark in Soltau, das ja geschlossen wurde. Nürnberg war eine Notlösung. Es gab keine andere Möglichkeit, die beiden Bullen im Jahr 2008 woanders unterzubringen. Seit Joker 2013 abgegeben wurde, ist wieder Frieden in die Gruppe eingekehrt. Mit Arnie und der restlichen Delfingruppe gibt es offenbar keine Probleme. Und Joker hat sich offenbar sehr gut in der Freianlage in Harderwijk eingelebt.
R o c c o kam zusammen mit Kai aus den Niederlanden nach Nürnberg. Kai hat sich gut in die bestehende Gruppe integriert, da er noch recht jung war, als er nach Nürnberg kam.
Dass neben anerkannten Wissenschaftlern nun auch der hochrangige Publizist und Tierfilmer Michael Miersch (https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Miersch) für die „Meeresakrobaten“ schreibt, zeigt den hohen Stellenwert der Delfin-Informations- Seite, welche Susanne Gugeler – neben ihrer Berufstätigkeit – rein privat seit nunmehr fast 15 Jahren (Geburtstag 17.7.2016!) nahezu tagesaktuell und mit stets hoher Fachkenntnis betreut.
Der Artikel wurde zwar nicht exklusiv für die Meeresakrobaten geschrieben, sondern für zoos.media, doch ich freue mich trotzdem sehr darüber, dass Michael Miersch mir die Erlaubnis gegeben hat, diesen tollen Beitrag auch auf meiner Website zu veröffentlichen.