Der Knackpunkt ist die Vermenschlichung
Denn obwohl von dieser Seite aus den Tieren nahezu sämtliche menschliche Emotionen durchaus zugesprochen werden, fehlen doch meist diejenigen, die in Wahrheit das Leben der Tiere bestimmen.
Der Knackpunkt hier ist die Vermenschlichung durch die Klientel, die sich selbst meist als einzig wahre Tierfreunde bezeichnet (es gibt wenige Themen, zu denen es wohl mehr Experten und mehr Meinungen gibt als zur Tierhaltung, Kindererziehung und Ernährung). Denn anstatt hier allein den Tieren emotionale Regungen zuzugestehen, werden ihnen im selben Atemzug eben gleich auch menschliche Motive unterstellt. Und das wird den Tieren nicht gerecht.
Vom Aussterben bedrohte Schwertwal-Population
Ein gutes Beispiel dafür sind die Ereignisse der vergangenen Wochen aus einer mittlerweile in den Medien stark beachteten und vom Aussterben bedrohten Schwertwal-Population, dem sogenannten J-Pod, beheimatet an der Nordost-Pazifikküste.
Während dort das Schwertwalweibchen J35 ihr verstorbenes Jungtier 17 Tage lang mitgetragen hat (es war kurz nach der Geburt verstorben), verschlechterte sich gleichzeitig der Gesundheitszustand des dreijährigen Jungtiers J50, ebenfalls weiblich.
(Anmerkung MEERESAKROBATEN: Siehe hierzu auch die Artikel Suche nach J50 wurde eingestellt und Rettungsmaßnahmen für Orca)
Seit einigen Wochen wird J50 nun vermisst und ist höchstwahrscheinlich tot.
Eine teils heftige Diskussion entbrannte über die Deutungshoheit des Verhaltens der Mutter J35: Manche sahen die lange Zeit mit ihrem toten Kalb verbringende Orca-Mutter als Beweis für die mitunter intensive Gefühlswelt der Orcas mit starken Bindungen innerhalb der Gruppe, andere dagegen bevorzugten eine eher nüchterne Betrachtung des Ganzen als Unfähigkeit dieser Tiere, den Tod zu begreifen und zu akzeptieren.
Argumentationskrieg
Dass beide Seiten dann auf „sozialen“ Plattformen begannen, einen heftigen Argumentationskrieg gegeneinander zu führen, zeigt, dass die Fronten durchaus verhärtet sind.
Das Thema wurde unter anderem von den sowieso Orcas anbetenden Tierrechtsgruppen wieder mal zur Waffe gegen die Orcas haltenden zoologischen Einrichtungen umfunktioniert, natürlich dabei völlig außer Acht lassend, dass es den Orca-Müttern mit ihren Jungtieren in kontrollierter Haltung mittlerweile deutlich besser geht als den Artgenossen im Nordostpazifik, die durch Hunger und Krankheiten dezimiert werden.
Die Tatsache, dass J50 im selben Zeitraum qualvoll verhungerte und verzweifelt versuchte, eine Meile hinter der Familie Schritt zu halten, wurde dabei von denselben Menschen geflissentlich ignoriert.
Und als dann eine Rettungsaktion der Behörden zur Debatte stand, sprachen sich die vorher noch so rührselig agierenden Personen vehement gegen eine Einmischung aus. Mit dem Hinweis, die Natur sei halt grausam.
Ja, was den nun?
Ja, was denn nun? Jedes Verhalten wilder Orcas wird irgendwie als Argument gegen die Haltung in Parks wie SeaWorld oder Loro Parque verwendet, um das „grausame Leiden“ in Gefangenschaft schnell zu beenden, doch gleichzeitig ist das qualvolle, eindeutig durch menschliche Einflüsse ausgelöste Sterben eines wilden Orcas kein Anlass, dort vor Ort einzugreifen und Fehler wiedergutzumachen.
Nicht erst dieser Fall voller Widersprüche zeigt, dass das Problem nicht bei zoologischer Haltung liegt, sondern vielmehr bei der Raubzug-Mentalität der menschlichen Gesellschaft und gerade auch bei den Tierrechts-Anhängern, die weder einer klaren moralischen Linie folgen noch sich verantwortlich fühlen, die Natur an sich zu schützen und zu erhalten.
Wohlfühl-Sessel wird nicht verlassen
Die Rettung unseres Planeten braucht entscheidungsfähige und handlungsbereite Menschen mit Durchsetzungsvermögen, die abseits medialer Aufmerksamkeit genauso effizient arbeiten können wie die Eventmanager der Tierrechtsindustrie im Scheinwerferlicht durchorganisierter Spendenveranstaltungen, in denen es um gut in Szene gesetztes Grauen geht, ohne jedoch jemals den heimischen Wohlfühlfaktor des Fernsehsessels verlassen zu müssen.
Soziale Medien machen es möglich.
Tierschutz jedoch findet draußen statt und fordert unentwegte Mühen und Kraft. Um helfen zu können, muss man dorthin gehen, wo es weh tut.
Extreme Trauer?
Nun möchte ich wieder zurück auf das Verhalten der Orcas aus dem J-Pod kommen. Ist es nun tatsächlich extreme Trauer, die J35 hier zeigte? Das Verhalten an sich ist durchaus bei Walen und Delfinen öfter beobachtet worden. Und ganz klar ist auch, dass die Bindung einer Tiermutter zu ihren Kindern stark sein muss. Besonders bei Tieren, die immer nur einzelne Jungtiere aufziehen und viel Zeit und Energie in diese investieren. Da verspüren die Mütter ganz klar auch den Verlust und Schmerz, wenn die eigenen Kinder es nicht schaffen.
Wie viel Trauer ist normal?
Die Frage ist hier, wie viel Trauer ist normal oder natürlich? Logisch wäre eine möglichst kurze Trauerphase, denn die Natur drängt zu einer schnellen erneuten Fortpflanzung bei einem Jungtierverlust.
Man sieht dies auch immer wieder bei Delfinmüttern, die bereits wenige Tage nach dem Tod eines Jungtieres wieder empfangen können. Oder bei Löwenmüttern, die sich oft sogar mit den Männchen paaren, die ihre Jungtiere getötet haben.
Doch dann gibt es auch immer wieder mal Fälle wie von J35, die auf weitaus komplexere Gefühls- und Denkvorgänge hinweisen. Und gleichzeitig verhungert mit J50 ein weiteres Jungtier dieser Gruppe, ohne besonders viel Aufmerksamkeit und Hilfe von der Familie zu erhalten, und das obwohl sie ja noch lebt.
Fühlen und Wissen sind unterschiedliche Dinge
Man sieht, es gibt einfach keine Möglichkeit, den Grund von bestimmten Verhaltensweisen mittels Gefühlen zu erklären, da es immer mehrere plausible Erklärungen gibt. Und manchmal finden wir eben keine Erklärung, auch das ist möglich. Denn Fühlen und Wissen sind einfach unterschiedliche Dinge.
Anstatt einigen Tierarten also pauschal Gefühle zu- oder abzuschreiben, sollte man immer jedes einzelne Individuum beurteilen. Denn Gefühle sind oft einzigartig. Es gibt in der Tierwelt Mütter, die ihre Jungtiere bis zum eigenen Tod verteidigen, und auch solche, die sie gleich nach der Geburt schon ignorieren. Den Grund dafür können wir als Außenstehende oft nicht erkennen, aber Auslöser jeder dieser Verhaltensweisen sind individuelle Gefühle.
Aufhören mit Deutungshoheiten
Und genauso ist es bei uns Menschen doch auch. Wir sollten also endlich aufhören, irgendeine Deutungshoheit über Handlungen von Tieren zu gewinnen, sondern akzeptieren, dass auch bei Tieren eben das gesamte Spektrum von Gefühlsäußerungen durchaus möglich ist.
Wir alle werden von Gefühlen geleitet und beeinflusst, das ist unsere Gemeinsamkeit.
Die mechanistische Betrachtung biologischer Systeme als „Maschinen“ trifft umso weniger zu, je höher die entsprechende Art entwickelt ist. Ich denke, das kann jeder bestätigen, der mal sowohl physikalische als auch biologische Experimente durchgeführt hat. In der Physik kann man auf viele Stellen hinter dem Komma vorausberechnen, wie sich eine Maschine verhalten wird. In der Biologie hingegen kann man schon bei einfachen Messungen (z.B. der Ableitung von Aktionspotenzialen) oft froh sein, wenn das Ergebnis auch nur annähernd em entspricht, was im Lehrbuch steht. Klar lassen sich bestimmte Vorhersagen treffen, die aber in ihrer Genauigkeit im Vergleich zu mechanischen Systemen doch sehr grob sind. Gerade bei höher entwockelten Arten, die im Sozialverband leben, gibt es zudem individuelle Charaktereigenschaften. Um beim Beispiel zu bleiben: Moby war ein sehr sozialverträgliches Tier und friedliches Tier, der dennoch seine Gruppe „im Griff hatte“. Andere Delfinmännchen sind viel forscher, aufdringlicher und aggressiver. Ich dene jeder Delfinpfleger könnte über jedes der ihm anvertrauten Tiere Romane über deren individuelle Eigenschaften, Stärken und auch deren „Macken“ erzählen. Klar, mein PC scheint manchmal auch so seine Macken zu haben und mitunter recht bockig zu sein, aber ich denke, das liegt nicht daran, dass er besonders „boshaft“ wäre, sondern einfach, weil die Programmierer eines häufig verwendeten Betriebssystems eben doch nicht ganz so sauber gearbeitet haben…
Ich betrachte Tiere (insbesonders höher entwickelte Arten) deshalb als Lebewesen, die einfach auf einem anderen „Ast“ des „Baums der Evolution“ sitzen. Eine Vermenschlichung wäre – wie Benjamin ja auch schreibt – ebenso falsch wie Gemeinsamkeiten zwischen den Arten zu leugnen, da wir mit näher verwandten Arten natürlich gemeinsame Vorfahren haben; die „Wurzeln“ also identisch sind. Im Lauf der Jahrmillionen hat man sich eben unterschiedlich entwickelt. Das finde ich gerade das faszinierende: wir sind mit allem, was auf diesem Planeten lebt, in irgendeiner Art und Weise genetisch verwandt. Für mich erzeugt dieses Wissen so eine Art Verbundenheitsgefühl, ich sehe darin jedoch nichts Esoterisches. Ob eine Art „besser“ oder „schlechter“ ist, hängt von der Disziplin an. So hat selbst der intelligenteste Delfin größte Schwierigkeiten, zwei zweistellige Zahlen zu addieren. Da macht uns Vertretern des Homo sapiens keine andere Art was vor. Wenn’s hingegen ums Schwimmen geht, wirkt selbst ein Olympiasieger wie Michael Phelps gegen einen Delfin wie eine lahme Schnecke.
Ich vermisse Moby auch, denke aber, dass er ein angenehmes Leben hatte. Auch wenn uns Delfine nicht sagen können, was sie empfinden, gibt die Analyse ihres Hormonhaushalts doch Hinweise auf ihre Stimmungslage. Wenn statt Cortisol („Stresshormon“) vermehrt Serotonin („Glückshormon“) findet, kann man schon davon ausgehen, dass es den Tieren wohl nicht allzu schlecht geht. Zudem zeigt ja auch das Verhalten dem Kenner recht gut an, wie die Delfine so drauf sind.
Danke Oliver für die tollen Ergänzungen! Deine Metapher mit dem Baum der Evolution finde ich klasse, da muss man nur nach draussen schauen und wenn man dort mehrere Vögel unterschiedlicher Arten auf einem Baum sitzen sieht, wie jeder sein eigenes Leben, aber doch in Verbindung mit den anderen dort lebt, dann erkennt man wie gut diese Beschreibung auch einige Grössenordnungen mehr immer noch zutreffend ist. Bei mir zuhause hab ich da immer ein tolles Bild, unten im Boden wühlen die Amseln, am Stamm klettern die Spechte, in den unteren ästen tummeln sich Meisen und Finken, in der Mitte sitzt ein Taubenpaar zusammen und oben machen die Krähen Krawall. Die Natur ist eine Einheit der Vielfalt. Ich glaube, der Begriff trifft es am besten.
Hallo Benjamin,
ich habe zu Hause ein tolles Evolutions-Poster, das ich mir immer stundenlang anschauen könnte. Es macht Spaß, bei zwei Klassen bzw. Ordnungen des Tier- und Pflanzenreichs zu beginnen und dann die Äste am Baum zurückzuverfolgen, bis man auf die Stelle trifft, als sich beide Gruppen getrennt haben.
https://www.kinderpostershop.de/Evolution-der-Pflanzen-und-Tiere
Mir hat dieser Eintrag sehr gut gefallen. Als jemand der von vielen Tieren fasziniert ist, von den „bösen“ (Haie, Schlangen etc) und den „lieben“ gleichermaßen kenne ich den Konflikt Tiere einerseits nicht zu vermenschlichen und andererseits den Gedanken im Hinterkopf zu behalten dass wir Tiere -trotz der Fortschritte, die wir gemacht haben –
vielleicht immer noch unterschätzen. Vor allem der Abschnitt mit der Intelligenz hat den Nagel auf den Kopf
getroffen. Nicht wer ist intelligent sondern was, ganz genau so sehe ich das auch. Genauso mit dem Abschnitt
über Gefühle.
Vielen Dank für deinen Kommentar, Marisa! Ich sehe die Fragestellung „Wer oder was ist intelligent?“ ganz ähnlich wie du. Außerdem ist es wichtig, den Tieren ihre Individualität nicht abzusprechen. Die einen reagieren so, die anderen so …