Biologen-Blog von Dr. rer. nat. Benjamin Schulz, Diplom-Biologe, Volontär, Zoo Dortmund, Teil 35
25. Oktober 2022
Die fünfte Freiheit
Nun habe ich den Titel des Beitrags nicht zufällig ausgewählt, sondern weil ich mich im Folgenden vor allem auf die fünfte der Freiheiten des Tierwohls fokussieren möchte, denn diese unterscheidet sich in einem wichtigen Detail von den anderen vier. Ich möchte das anhand des Beispiels in einem Zoo erläutern:
Ich bin sicher, jeder kann hierbei gut nachvollziehen, dass die ersten vier Freiheiten allesamt Bedingungen innerhalb der einzelnen Zoos betreffen und dementsprechend vom Gehege-Design, der Tierpflege und der tierärztlichen Betreuung, also dem Personal vor Ort abhängen.
Die Freiheiten 1 bis 4 kann jeder einzelne Zoo meist gut managen
Die Futterpläne, die Futterstellen und Tränken, die Größe und Ausstattung der Gehege, die Verfügbarkeit veterinärmedizinischer Versorgung durch angestellte Tierärzte und Tierärztinnen sowie eine umfänglich ausgestattete tierärztliche Praxis und natürlich auch der Umgang mit den Tieren selbst durch das Tierpflegepersonal sind alles Faktoren, die ein Zoo selbst beeinflussen kann durch die Einstellung geschulten Personals, die Aus- und Weiterbildung desselbigen und die Investitionen in gut geplante Tiergehege und den Ankauf hochwertigen Tierfutters.
Bei der fünften Freiheit ist das jedoch grundlegend anders: Natürlich bleiben hierbei auch die jeweiligen Bedingungen vor Ort ein bedeutsamer Faktor, denn ohne eine tiergerechte Grundlage im Habitat, ohne Futter sowie tierpflegerische und tierärztliche Versorgung würde kein Tier natürliches Verhalten zeigen können.
Intakte Gruppenstruktur
Aber als ergänzender und essenzieller Faktor ist die Kooperation aller beteiligten Haltungen in den Bereichen der Zucht, der Forschung und des Populationsmanagements anzusehen. Denn das Ausleben natürlichen Verhaltens hängt bei vielen Tieren, vor allem sehr sozial lebenden, von einer intakten Gruppenstruktur ab.
Und diese wiederum befindet sich in einem stetigen Fluss. Beziehungen werden geknüpft oder aufgelöst, Konflikte können plötzlich ausbrechen oder die individuellen Anforderungen an die Sozialstruktur ändern sich im Laufe des Lebens.
Die Zoos brauchen einander
Um diese Veränderungen aufzufangen und den Ansprüchen kontinuierlich gerecht werden zu können, brauchen die Zoos einander. Denn oft können nur durch Austauschprogramme die sozialen Bedürfnisse der Tiere garantiert werden.
Einzelne Zoos kommen bei der Umsetzung ihrer Tiergruppen schnell an Grenzen, wenn Ausweichquartiere fehlen oder schlicht zu klein sind oder die nötige Distanz zwischen unverträglichen Tieren nicht ermöglicht werden kann.
Nachzucht
Ein weiterer ebenso bedeutsamer Aspekt betrifft die Nachzucht: Um eine gesunde, genetisch breit aufgestellte Population zu gewährleisten, in der die Tiere passende Partner zur Fortpflanzung finden und Inzucht vermieden wird, sind Austausche mit anderen Haltungen essenziell.
Besonders für bedrohte Tierarten in den Zuchtprogrammen des EEP oder ESB ist dies wichtig, und natürlich spielt die Ermöglichung einer natürlichen Verpaarung und Aufzucht auch eine zentrale Rolle im Repertoire essenziellen natürlichen Verhaltens sowie für die soziale Gruppenstruktur. Schließlich wissen wir, dass viele Tierarten sich in Sozialverbänden zwecks der Fortpflanzung zusammenfinden und diese sich also unter dominantem Einfluss des Sexualtriebs sowie des Aufzuchtverhaltens formen.
Benjamin führt auf der nächsten Seite am Beispiel der Delfinhaltung aus, wie schwierig es ist, die fünfte Freiheit zu gewährleisten.
Ich möchte zu meinem Blogbeitrag noch anmerken, dass ich die Szenarien schon vor längerer Zeit als Konzept aufgeschrieben habe, lange bevor der kürzlich öffentlich gewordene Inzuchtfall im Zoo Duisburg bekannt geworden ist.
Ich habe zunächst überlegt, ob ich diesen Beitrag noch veröffentlichen soll, mich aber letzten Endes dafür entschieden, da nun tatsächlich alle in meinem Szenario 1 beschriebenen Dinge irgendwo tatsächlich passiert sind und deutlich machen, wie wichtig eine funktionierende Kooperation für die Haltung von Delfinen ist. Im aktuellen Fall würde ich dem Zoo Duisburg nie einen Vorwurf machen, weil ich auch die Hintergründe der Zuchtbuchsituation in Europa kenne und die Folgen des einseitigen politischen Drucks in mehreren Ländern, wo Delfinarien aus ideologisch verklärten Gründen geschlossen worden sind, ohne einen Plan zu haben, was mit diesen Tieren geschieht und auch welche Konsequenzen es für die verbleibenden Zoos hat. Wie ich schon in einer niederländischen Zeitung geschrieben habe, werden als Konsequenz aus der planlosen Hetze gegen Delfinhaltungen irgendwann alle jetzt unter strengen Regeln gehaltenen europäischen Delfine an neue Halter in der weiten Welt verschachert, die sich gar nicht um Tierschutz, Erhaltungszucht und Bildungsarbeit scheren. Bisher hat keine der durch Aktivisten initiierten politischen Beschlüsse zur Verbesserung der Lebensverhältnisse geführt, sondern nur dazu, dass Tiere aus kontrollierter Haltung entfernt werden mussten und nun nicht mehr greifbar sind für die Erhaltungszucht, das Tierwohl und die Forschung und führte gleichzeitig indirekt auch zu Problemen an anderen Orten wie nun auch hier in einem deutschen Zoo.
Vielen Dank für deine Ergänzung, Benjamin!
Ich sehe es ähnlich wie du: Aktivisten, die im Namen des Tierschutzes agieren, ist überhaupt nicht bewusst, dass sie mit den Schließungsforderungen von seriös und wissenschaftlich betriebenen Delfinarien in keinster Weise zum Wohlbefinden der Tiere beitragen. Auch führen grenzwertige Aktionen (zum Beispiel das Springen in Delfinbecken, um gegen die Haltung zu protestieren) nicht dazu, dass ein einziger in freier Natur lebender Delfin, der immensen menschengemachten Gefahren ausgesetzt ist, besser geschützt wird.