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„Der Gesang in den Meeren“


Themen:

Meeresakrobaten, 2. März 2023

Ich möchte euch heute das Buch „Der Gesang in den Meeren“ von Doreen Cunningham vorstellen.

„Der Gesang in den Meeren“
(Foto: Susanne Gugeler)

Abenteuer einer alleinerziehenden Mutter

Für einen ersten kurzen Überblick zitiere ich die Verlagsinfo:

„Von den Lagunen in Baja California bis zu den Gletschern des Nordpolarmeers legen Grauwalmütter mit ihren Kälbern jährlich Tausende von Meilen in dem sich aufgrund des Klimawandels erwärmenden Meer zurück. Es ist die längste Wanderung eines Säugetiers auf unserem Planeten. Doreen Cunningham, selbst alleinerziehende Mutter, folgt den Walen auf dieser gefährlichen Reise, zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Max – in Bussen, Zügen und auf Schiffen, allein und auf sich gestellt.“

Am Tiefpunkt ihres Lebens

Den Plan zu diesem Abenteuer fasst die britische Autorin im Jahr 2013, nachdem sie am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen war.

Den Alltag in einem Heim für obdachlose Mütter tauscht die finanziell und psychisch ruinierte Umweltingenieurin und BBC-Journalistin ein gegen eine spektakuläre Reise zu den Grauwalen. Ihr Ziel: Sie möchte ihrem zweijährigen Sohn Max, den sie über alles liebt, zeigen, dass alle Hindernisse zu überwinden sind.

Ein Kredit von 10.000 Pfund ermöglicht der Vierzigjährigen, die Grauwalmütter und ihre Kälber auf deren Wanderung von Süden nach Norden zu begleiten.

Grauwal am Boot
(Foto: Roland Edler)

Grauwalmütter machen es vor

Die Meeressäuger bewältigen Jahr für Jahr eine Migrationsroute von mehreren Tausend Kilometern, um ihre Jungtiere von der Geburtsstätte in Baja California zu den Nahrungsgründen in Alaska zu führen.

Wenn die Grauwalmütter es schaffen, ihren Nachwuchs wohlbehalten bis in die Arktis zu geleiten, wird auch Doreen es schaffen, Max eine gute Mutter zu sein. Das ist jedenfalls die Hoffnung der Autorin.

Sie ist sich sicher, auf der Reise zu sich selbst zu finden und die Zukunft voller Tatkraft angehen zu können.

Nichts verläuft nach Plan

Im Buch kann man erfahren, dass es sich für Doreen nach vielen Niederschlägen anfühlte, als müsste sie von Neuem Laufen und Sprechen lernen. Die Welt schien sie nicht mehr zu erkennen. Sie konzentrierte sich also auf ihren Mittelpunkt dieser Welt – ihren kleinen Sohn.

Doch auf der Reise verliert Doreen zunächst ihr Vertrauen – in die Wale und in sich selbst. Die „Grauen“ sind durch die Erwärmung des Pazifiks früher aufgebrochen und entwischen ihr – manchmal nur um Haaresbreite. Leider verläuft nichts nach Plan.

Ob Doreen und Max doch noch erleben, wie die Grauwale im Nahrungsgebiet hoch im Norden ankommen, möchte ich nicht verraten.

Am Schluss des Buches erfährt der Leser ganz nebenbei, dass Doreen Cunningham bis 2021 zwei weitere Kinder geboren hat und in Großbritannien lebt.

Grauwal-Baby
(Foto: Roland Edler)

Rückblick

Bereits 2006 verbrachte Doreen mehrere Monate lang bei den indigenen Ureinwohnern Alaskas. Darüber erzählt sie in parallel zur eigentlichen Geschichte eingefügten Kapiteln.

Im Nordpolargebiet erlebte die Autorin zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, in einer Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Zwar hatte es sie damals viel Überwindung gekostet, als Vegetarierin Walfleisch zu essen und bei einer Waljagd dabei zu sein, aber sie hat auch gelernt, das Leben der Einheimischen nicht zu verurteilen, sondern auf die weisen Worte ihrer Gastgeber in Bezug auf den Schutz der Natur zu hören.

Spannende Autobiografie

Die Autobiografie von Doreen Cunningham ist sowohl spannend wie ein Roman als auch informativ wie eine Dokumentation geschrieben.

Reisebericht, intime Rückblicke und die heutige Sicht auf die Klimaerwärmung stellen eine einzigartige Mischung aus Belletristik und Sachbuch dar. Wissenschaftliche Fakten werden mit Quellenangaben und Zitaten unterlegt.

Auch Blauwal FLUKE taucht auf …

Der Leser und die Leserin erfahren viel über die Biologie und Verhaltensweise der Wale.

Besonders gefreut hat mich, dass ganz unvermittelt FLUKE in diesem Buch auftaucht. Der auch Calabaza genannte Blauwal wird bereits seit mehreren Jahrzehnten in der Baja California beobachtet und es gibt immer wieder aktuelle Sichtungsmeldungen von diesem Walbullen mit der auffälligen Zeichnung auf der Schwanzflosse.

Blauwal FLUKE (Foto: Frank Blache)

Irreführende Stelle im Buch

Etwas stutzig gemacht haben mich die Sätze auf Seite 41, in denen die Walgeburt beschrieben wird: „Ich stelle mir eine gebärende Grauwalmutter vor, die ihren Schwanz immer wieder senkrecht aus dem Wasser hebt, während ein im Vergleich winziger Kopf aus einem langen, wunderschönen Schlitz in der Nähe ihrer Fluke erscheint. … Es kommt Stück für Stück zum Vorschein, und dann geht alles schnell, fünf Meter Wal sind da …“

Hier wird suggeriert, dass bei der Geburt eines Wales zuerst der Kopf austritt. Doch alle Wale und Delfine werden mit der Fluke (Schwanzflosse) voraus geboren. Da sie Luftatmer sind, würden sie sonst beim langen Geburtsvorgang ersticken. Sobald der Kopf als Letztes bei der Geburt erscheint, wird das Neugeborene von der Mutter zum Luftholen nach oben gestoßen.

Begriffe in Inuit bremsen den Lesefluss

Etwas schwergefallen ist mir außerdem, mich in die Autorin hineinzuversetzen. Mit einem Kleinkind 2013 durch das als gefährlich geltende Mexiko zu tingeln, grenzt – vordergründig betrachtet – an übersteigertem Selbstbewusstsein und Egoismus. Man muss wahrscheinlich ein ähnlich hartes Schicksal wie die Autorin erlitten haben, um deren Plan nachvollziehen zu können.

Störend war für mich auch, dass sehr viele Begriffe aus der Inuit-Sprache vorkommen. Denn diese Einstreuungen bremsen den Lesefluss.

Zwei Seiten aus dem Buch
(Foto: Susanne Gugeler)

Jan Herrmann wird erwähnt

Übersetzt wurde das Buch von Karen Witthuhn. Ich habe mich gefreut, dass sie in der Danksagung den Tierarzt und Wal-Experten Jan Herrmann erwähnt, auf dessen Website cetacea.de auch die Meeresakrobaten und www.derkleine.delfin.de Einzug gefunden haben.

Daten zum Buch

Doreen Cunningham, „Der Gesang in den Meeren“
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
Rowohlt Verlag, 1. Edition (15. November 2022), 368 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-498-00242-8

Beenden möchte ich meine Buchbesprechung mit Doreen Cunninghams schönen Abschlussworten auf Seite 346: „Wir haben den Walen vorgesungen. Wir haben ihren Atemzügen gelauscht. Wir haben dem Meer gelauscht. Dieses Buch ist das, was ich gehört habe.“

2 Kommentare

  1. Hallo Susanne,
    mein erster Gedanke war auch: „Wie kann man nur ein zweijähriges Kleinkind auf solch eine Expedition mitnehmen?“
    Zumal sich das Kind in einigen Jahren mit Sicherheit nicht mehr an das Erlebte erinnern wird.
    Wenn man mich fragt, an welche Ereignisse aus meinem Zweiten Lebensjahr ich mich noch erinnere, muss ich passen.

    geschrieben von Oliver
    1. Hallo Oliver,
      vielen Dank für deinen Kommentar.
      Mir fällt es ebenfalls schwer, mich in Doreens Motivation hineinzuversetzen, was die Mitnahme eines so kleinen Kindes betrifft.
      Doch in der Geschichte erfährt man, dass Max ein sehr aufgeschlossener Junge und intellektuell wahrscheinlich seinen Altersgenossen voraus war. Offenbar konnte er sich später auch noch an die Reise und das Abenteuer mit den Walen erinnern. Ein Risiko war die Expedition in Mexiko meines Erachtens aber trotzdem.

      geschrieben von Susanne

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