Fünf Proben
Günther Behrmann untersuchte die Zähne aus dem Oberkiefer von fünf Pottwalbullen, die 1984, 1994 und 1997 an den Küsten der Nordsee strandeten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Pottwale auch im Oberkiefer Zähne haben, die jedoch nicht so groß werden wie die Zähne im Unterkiefer. Behrmann wählte aber lieber diese kleineren Zähne, da sie sich besser für mikroskopische Untersuchungen eignen. (Sehr gut zu erkennen sind die Oberkiefer-Zähne bei einem von Günther Behrmann präparierten Pottwal-Skelett im Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven, in der Nähe vom „Zoo am Meer“.)
Behrmann erklärt weiter: „Von jedem Wal wurde aus dem Oberkiefer ein Zahn entnommen und aus jedem Zahn wurden zwei Dünnschnitte angefertigt: einer für die Lichtmikroskopie, der zweite für die Qualitative Elementanalyse (Scanning Electron Microscopy).“ Der Wal-Forscher ging davon aus, kontaminierte Bereiche genau in der Schicht zu finden, die sich im Jahr 1986 gebildet haben musste.
Untersuchung der Proben
Nachdem uns Behrmann zur Auflockerung einen Pottwal-Zahn zeigte, der von Karies befallen ist, was man bei Walen auch nicht unbedingt vermutet, lenkte er unsere Aufmerksamkeit wieder auf den Reaktorunfall von Tschernobyl (April 1986).
1. Probe: Der Zahn eines 1984 in derWesermündung gestrandeten Pottwals hat 54 bis 59 Elfenbeinringe. Dieser Zahn wurde bereits 1998 untersucht. Vom Zahnkeim bis zum jüngsten Ring zeigten Elementanalysen keine Kontaminierung.
2. und 3. Probe: Die Untersuchung der Skelette von zwei 1997 gestrandeten Pottwalbullen (Röm/Dänemark; Cuxhaven) erfolgte 2001. Die Proben beider Wale hatten 12 bis 13 Zuwachsringe. Kontaminierungen konnten nicht festgestellt werden, obwohl die Tiere – wenn man von der Anzahl der „Altesringe“ ausgeht – vor dem Tschernobyl-Unfall geboren sein mussten.
4. und 5. Probe: Die Elementanalysen der vierten und fünften Probe zeigten dagegen deutliche Unterschiede. Die vierte Probe stammt von einem Pottwal, der ebenfalls 1997 auf Röm strandete. Dessen Zahn hatte 17 bis 21 Zuwachsringe. Die kontaminierten Bereiche lagen knapp unterhalb des Zahnschmelzes. Die fünfte Probe stammte von einem 1994 bei Baltrum gestrandeten Pottwalbullen. Sein Zahn hatte 38 bis 42 Zuwachsringe. Hier wurden kontaminierte Partikel in der 21. Lage unter dem jünsten Zuwachsring gefunden. Die Kontaminationen in den Pottwal-Zähnen verteilen sich übrigens nicht gleichmäßig über die Zellen, sondern konzentrieren sich in wenigen Arealen. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Befunden von Philipsborn (1988). Die kontaminierten Partikel enthielten Elemente wie Zirkonium, Beryllium, Lithium, Iridium, Eisen und Nickel sowie Spuren anderer Elemente, die natürlicherweise nicht in Zähnen vorkommen, aber bei dem Reaktorunfall in die Atmosphäre gelangten.
Weil vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl kein vergleichbarer Gau bekannt wurde, kann man davon ausgehen, dass das Material in den Zuwachsringen der Pottwalzähne aus dem genannten Reaktor stammt.
Von der Kontaminierung der Zähne im Jahr 1986 bis zur Strandung wurden im Durchschnitt doppelt so viele Zuwachsringe angelegt wie Jahre vergangen sind. Die Zuwachsringe erlauben also nur eine ganz grobe Schätzung des Alters, wozu man aber möglichst mehrere Zählungen durchführen sollte.
Nach der Zahl ihrer Zuwachsringe und der Folgerung, dass nach 1986 bis zur Strandung bei den Walen doppelt so viele Zuwachsringe angelegt wurden (siehe Probe 4 und 5) waren die beiden Pottwalbullen (Probe 2 und 3) 6 bis 7 Jahre alt, als sie strandeten. Sie kamen also erst nach Tschernobyl auf die Welt und wurden somit auch nicht belastet. Ebenso war der etwa 27 Jahre alte Pottwalbulle, der vor dem Reaktorunfall strandete, nämlich 1984, auch nicht belastet.
Verringerte Elfenbeinproduktion
Wale leben in unterschiedlichen Bereichen des Meeres. Zur Paarung und Reproduktion bevorzugen Pottwale Meeresgebiete, in denen das Wasser nicht viel kälter als 15 Grad wird – z.B. bei den Mittelatlantischen Inseln oder im Indischen Ozean. Nach der Paarung verlassen Bullen oder Kühe ohne Kälber die wärmeren Gebiete Richtung Polarmeer, wo sie in der Nähe der Eisgrenzen reichhaltigere Nahrungsgebiete vorfinden. Auf den langen Wanderungen dorthin hungern die Pottwale (die Mägen der gestrandeten Pottwale enthielten nur unverdauliche Nahrungsreste von Tintenfischen). In dieser Zeit ist die Elfenbeinproduktion verringert oder ganz eingestellt.
Steht wieder genügend Nahrung zur Verfügung, wird auch wieder Elfenbein produziert. Bei den wandernden Pottwalen können also in einem Jahr mehrere Wachstumsringe entstehen.
Kühe mit ihren saugenden Kälbern bleiben in den warmen Meeren, bis die Kälber in der Lage sind, größere Wanderungen zu überstehen. In dieser Zeit nehmen sie ohne Unterbrechung Nahrung auf. Wie viele Elfenbeinringe in dieser Zeit gebildet werden, konnte mangels geeigneter Zähne noch nicht untersucht werden.
Wie das Alter der Wale noch bestimmt wird
Das exakte Alter eines Zahn- und erst recht eines Bartenwales ist also äußerst schwierig auszumachen. Manche Wal-Anatomen benutzen zur Altersbestimmung eine Methode, bei der Veränderungen in der Asparginsäure verfolgt werden. (Asparginsäure ist eine Aminosäure, die in den Linsen der Augen und in den Zähnen vorkommt.)
Wie das Magazin „Nature“ berichtet, kann auch mithilfe von Gentests, die an Hautschuppen der Meeressäuger vorgenommen werden, das Alter von Walen bestimmt werden. Laut japanischen Wissenschaftlern ist die Altersbestimmung bei Bartenwalen nur anhand von Proben aus den Ohren der Tiere möglich, die allerdings nur am toten Tier gewonnen werden können. Die Ohrenschmalzlagen geben offenbar Auskunft über das Alter der Tiere. Das ist u.a. ein Grund dafür, mit dem in Japan der sogenannte wissenschaftliche Walfang legitimiert wird. (Siehe hierzu auch den Meeresakrobaten-Beitrag vom 18. September 2013: Was Ohrenschmalz alles über Wale verrät.)